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Fremd im eigenen Land

Ricardo wächst in den USA auf, gerät auf die schiefe Bahn, wird nach Mexiko abgeschoben. Wie sich ein Deportado wieder hochkämpft.

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„Hier muss Gott leben“, denkt Ricardo Varano als er mit elf Jahren nach Tennessee kommt. Sattgrüner Rasen, glänzende Autos, hinter dem Haus schwirren nachts Glühwürmchen. Die ersten elf Jahre seines Lebens hatte er nicht mehr von der Welt gesehen als ein paar staubige Häuser und seine Grundschule in der Peripherie von Mexiko-Stadt. „Die USA waren eine neue Welt“, erinnert er sich. Zwanzig Jahre später wird Ricardo nachdenklich, wenn er zurückblickt. Ein lang gedehntes US-amerikanisches „man“ leitet seine Sätze ein, wenn er erzählt, wie er aus den USA abgeschoben wurde.

Die Familie, die er sich immer gewünscht hat

Es ist 5:30 Uhr am Morgen in Chimalhuacán, einem Vorort von Mexiko-Stadt. In dem kleinen unverputzten Haus, in dem Ricardo wohnt, gehen die Lichter an. Seine Frau stellt einen Topf auf den Herd und erhitzt das Wasser für den Kaffee. Ricardo füllt vor dem Haus große Plastikeimer und trägt sie ins Bad als Klospülung. Ricardo ist nicht reich, aber er hat die Familie nach der er sich immer gesehnt hat. Seine zwei kleinen Söhne schlafen noch als er das Haus verlässt.

Ricardos Zuhause in Mexiko

Die Gegend, in der er heute lebt, ähnelt der Welt, der Ricardo als 11-Jähriger entfloh: unverputzte Betonhäuser, streunende Hunde. Seine Mutter zieht ihn alleine groß, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Sein Vater, ein Soldat mit vielen Frauen und vielen Kindern, unterstützt sie nicht. Von morgens bis abends ist die Mutter aus dem Haus, die meiste Zeit ist er allein. Schon als kleiner Junge sehnt er sich nach einem besseren Leben.

"Sein Gesicht sah meinem so ähnlich"

Nur zwei Mal sieht er seinen Vater, als er ihn mit ins Kino nimmt. Trotzdem träumt Ricardo davon, dass er ihn eines Tages zu sich holt. „Ich weiß noch genau wie ich sein Gesicht angefasst habe, das meinem so ähnlich war“. Als Ricardo mit acht Jahren erfährt, dass sein Vater ums Leben gekommen ist, weiß er nicht mehr, wovon er träumen soll.

Seine Mutter verkauft an einem Straßenstand Maiskolben. Nachdem Ricardo die Grundschule abgeschlossen hat, hilft er ihr und wischt Autoscheiben an Kreuzungen für ein paar zusätzliche Pesos. Aus Verzweiflung bittet die Mutter ihren Bruder in Tennessee um Hilfe. Er besorgt ihnen gefälschte Papiere und bucht einen Flug.

In Tennessee findet sich Ricardo in einer neuen Welt wieder, er lernt schnell Englisch, geht zur Highschool, findet Freunde. Nach der Schule hilft er auf einer Pferderanch aus und darf dafür reiten.

Ricardos Zuhause in den USA

Dennoch bekommt sein Leben in den USA schnell Risse. Seine Mutter sieht er kaum, weil sie den ganzen Tag in den Häusern anderer Leute putzt. Seine Cousins dürfen ins Kino gehen, während er alleine aufräumen und fegen muss. Ricardo sucht nach Respekt und Zugehörigkeit, beides findet er in einer Gang.

"Ich wollte jemanden, der sagt: „I love you, man!“"

„Ich wollte jemanden, der sagt „I love you, man!“, erinnert er sich. „Hier habe ich dazugehört.“ Erst verkauft er nur Gras, später auch härtere Drogen. Er kann sich ein Auto leisten, ist bekannt im ganzen Ort. Die Polizei grüßt ihn auf der Straße. „Ich bin ein lässiger Typ“, sagt Ricardo, „aber wenn man mich reizt, nimmt man sich besser in Acht“.

Seine Impulsivität wird ihm zum Verhängnis als er einen jungen Mann zusammenschlägt. Selbstverteidigung, sagt er heute. Das sieht das Gericht anders und verurteilt ihn wegen versuchten Mordes zu drei Jahren Haft. Die Strafe fällt niedriger aus als gewöhnlich, weil mehrere seiner Lehrer sich bei der Anhörung für ihn einsetzen. Im Juni 2008 wird er aus der Haft entlassen, zwei Monate früher wegen guter Führung. Doch das hilft ihm wenig – kurze Zeit später bringt man ihn in Abschiebehaft, und weist ihn in der Grenzstadt Nuevo Laredo aus.

Unfreiwillige Rückkehr nach Mexiko

Er läuft über eine Brücke und ist mit wenigen Schritten zurück in dem Land, aus dem er als 11-Jähriger gekommen war, am Leib nur seine Kleidung – und etwas Geld. Das mexikanische Sprichwort „Gott ist so fern und die USA so nah“ ist für ihn mit 24 Jahren nun bittere Realität. „Erst habe ich überlegt, im Norden zu bleiben, und die Grenze erneut zu überqueren“, erinnert er sich. Dann sieht er die Transporter der Gangs, er denkt „Ich muss hier weg“ und steigt in einen Bus nach Mexiko-Stadt.

Wie Ricardo werden jedes Jahr mehrere Tausend Mexikaner aus den USA abgeschoben. 2017 waren es fast 170.000. Unter Barack Obama war die Zahl sogar noch höher. Die meisten sind bei der Ankunft sich selbst überlassen und haben weder Papiere noch einen Platz zum Schlafen. Maggie Loredo arbeitet für Others Dreams in Action (ODA), eine nichtstaatliche Organisation, die „Retornardos“, also Rückkehrern, hilft. Wie Ricardo wurde auch sie 2008 abgeschoben. „Damals hätten wir die Hilfe gebrauchen können, die wir heute versuchen, anderen zu geben“, sagt sie, „Wir Deportierten waren in der Gesellschaft noch völlig unsichtbar. Niemand hat über das Thema gesprochen.“

Schiebt Trump mehr Menschen ab als Obama?
Abschiebungen aus den USA - ein Überblick

Wie viele Mexikaner werden aus den USA abgeschoben?
2017 wurden nach offiziellen Angaben des mexikanischen Ministeriums für Migration insgesamt 167.064 Mexikaner aus den USA abgeschoben. Die Jahre zuvor war die Zahl noch höher.

Ist die Zahl der Abschiebungen also gesunken, seit Donald Trump im Amt ist?
Entgegen seiner Polemik gegen Einwanderer und Mexikaner hat Donald Trump bis jetzt im Durchschnitt weniger Menschen abgeschoben als Barack Obama. 2017 war die Anzahl der Abschiebungen deutlich geringer als in den beiden Jahren zuvor. Die ersten fünf Monate von 2018, für die Zahlen vorliegen, deuten aber wieder auf eine steigende Tendenz.

Wie werden die Menschen abgeschoben?
Die Mehrzahl wird an der Grenze zwischen  den USA und Mexiko ausgewiesen. Ein kleiner Anteil wird im Flugzeug nach Mexiko Stadt gebracht. Dieser Anteil ist über die Jahre gestiegen. 2015 kamen sechs Prozent am Flughafen in Mexiko Stadt an. Heute sind es elf Prozent.

Warum werden Mexikaner aus den USA abgeschoben?
2016 lebten in den USA rund 5,6 Millionen Mexikaner als undokumentierte Migranten. Die meisten von ihnen sind schon länger als zehn Jahre in den USA. Trotzdem können sie als Undokumentierte jederzeit abgeschoben werden. Viele von ihnen haben bereits schriftlich eine Aufforderung, das Land zu verlassen, die aber nicht vollstreckt wird. Sie müssen sich regelmäßig bei den Behörden melden. Jeder Gang zum Migrationsbüro birgt das Risiko, abgeschoben zu werden. Seit Trump im Amt ist, kommt es immer öfter vor, dass Migranten beim regulären Melden bei der Behörde verhaftet und in Abschiebehaft gebracht werden.

Was tut der mexikanische Staat, um den Rückkehrern zu helfen?
Es gibt Programme für die "Retornados" - also Rückkehrer. Aber die Programme erreichen bei weitem nicht jeden. Laut Nichtregierungsorganisationen wie Others Dreams in Action (ODA) ist das Problem vor allem die mangelnde Kommunikation zwischen föderalen und lokalen Behörden. Da die meisten ohne Ausweis nach Mexiko zurückkehren, müssen sie erst in einem komplizierten Prozess nachweisen, dass sie mexikanische Staatsbürger sind. Erst dann können sie Hilfe in Anspruch nehmen. Ohne Ausweis können sie außerdem kein Bankkonto eröffnen und keine Wohnung mieten. In den letzten Jahren haben vor allem "Retornados" selbst Organisationen gegründet, um die Lücken zu füllen.

Heute wünscht sich Ricardo nicht mehr, in die USA zurückzukehren. Er ist angekommen. Nach zwei Stunden und 34 Kilometern Fahrt bis ins Herz von Mexiko-Stadt, sitzt er jetzt im hippen Stadtteil Roma Norte in einem Co-Working-Space am Laptop und scannt mit seinen Augen blau-lila Codes auf schwarzem Hintergrund ab. Um ihn herum wird „Spanglish“ gesprochen. Hier schaut ihn niemand schief an, wenn er dauernd „man“ sagt. „Hier werde ich geschätzt.“

Eine bessere Zukunft programmieren

Ricardo ist Teil von „HolaCode“, einem Ausbildungsprogramm speziell für Rückkehrer wie ihn. Die Teilnehmer lernen innerhalb von fünf Monaten die Grundlagen des Programmierens. Die Kosten der Ausbildung laufen über einen Kredit, den die Absolventen später abbezahlen müssen. Wenn sie etwa einen Job haben, bei dem sie umgerechnet mindestens 5.000 Euro im Monat verdienen. Ricardo ist einer von 22 Teilnehmern des ersten Jahrgangs.

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Ricardos Kollegen bei HolaCode teilen seine Geschichte. Sie alle sind aus den USA abgeschoben worden.

Neben dem Unterricht hilft HolaCode den Teilnehmern auch, eine Bleibe zu finden und bereitet auf die Jobsuche vor. Weil Richie -wie alle hier Ricardo nennen-  schnell aggressiv werden kann, wenn er etwas nicht versteht, stellt ihm HolaCode sogar eine Therapeutin an die Seite. Ein Mal in der Woche kommt sie. „Die Leute hier kümmern sich wirklich um mich“, sagt Ricardo, der nicht so gern über seine Schwächen spricht.

Maggie Loredo von ODA lobt, dass das Programm alle Herausforderungen mit einbezieht, vor denen die Rückkehrer stehen. Sie sagt aber auch: „HolaCode ist nicht für jeden etwas. Wir dürfen nicht vergessen, dass nicht alle Rückkehrer Ende zwanzig und gut ausgebildet sind.“

Unterstützung beim Neuanfang

Seit Ricardo das Programm im Mai abgeschlossen hat, ist er auf Jobsuche, auch dabei hilft ihm HolaCode. Weiterhin kommt er jeden Tag in den Co-Working-Space, hört Vorträge und bekommt Bewerbungstrainings.

"Ich war diskriminiert im eigenen Land"

Von der Abschiebung aus den USA bis hierher war es ein weiter Weg. Zurück in Mexiko-Stadt muss Ricardo erstmal unter einer Brücke schlafen. Er spricht kaum Spanisch, hat keine Papiere. „Ich wurde diskriminiert im eigenen Land“, sagt Ricardo. „Niemand hat mir geholfen“.

Ein Mann, der neben ihm sein Lager aufschlägt, bringt ihm bei, Witze zu erzählen. In mexikanischen Großstädten machen Clowns in Bussen Späße und lassen den Hut rumgehen – so verdient sich nun auch Ricardo ein wenig Geld. Er sammelt Plastik, wischt an Ampeln Autoscheiben. Er kämpft sich durch mit allen Mitteln. „Ein Motor tief in mir drin, hat mich immer angetrieben, weiterzumachen“, sagt er.

An einem guten Tag als Clown im Bus nimmt er etwas mehr als 200 Pesos ein (umgerechnet circa 12 Euro). Etwa genau so viel verdient er, als er 2015 in einem Callcenter anfängt. Viele Abgeschobene wie er landen in diesem Beruf. Besonders US-Firmen nutzen die niedrigen Löhne in Mexiko aus und profitieren von den zweisprachigen Rückkehrern. Um mehr zu verdienen, macht Ricardo Nachtschichten, opfert seine Wochenenden, sieht seine Kinder kaum noch. Als er Ende 2017 von HolaCode erfährt, zögert er nicht lange.

Für seine Kinder tut er alles

Es ist bereits dunkel, als Ricardo seinen Laptop zuklappt. Er rennt die wenigen hundert Meter zur Metro durch den Regen. Als zwei Kinder, vielleicht zehn Jahre alt, einsteigen, und Süßigkeiten verkaufen, schweift sein Blick ab. Er weiß, wie sich das anfühlt. Heute trägt er ein ordentliches kariertes Hemd und Lederschuhe. Als er nach Hause kommt, müssen die Kinder fast schon wieder schlafen gehen. „Meine Söhne sind mein Ein und Alles“, sagt er. „Ich tue alles, um für sie der Vater zu sein, den ich mir immer gewünscht habe“. Immer wieder versuche er, ihnen englische Wörter beizubringen, aber sie hätten nicht wirklich Lust, sagt er lachend.

Ricardos größter Wunsch ist es, einen Job zu finden, der es ihm ermöglicht, mehr Zeit mit seinen Söhnen zu verbringen. Ob als Programmierer oder in einem anderen Bereich ist ihm nicht so wichtig. Er will sich in die Gesellschaft einbringen, überlegt, in eine Partei einzutreten. Er träumt von einem Land, in dem sich alle Kinder aufgehoben fühlen, nicht allein zu Hause gelassen werden, oder Süßigkeiten in der U-Bahn verkaufen müssen. Das wäre für ihn ein Mexiko, in dem sich auch Gott entscheiden würde zu leben.

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"Ich wünsche mir für mein Mexiko, dass es disziplinierter wird."

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